Freitag, 7. September 2007

Jonathan Lethems neuer Roman

Warum die eine Band auf dem örtlichen Radiosender gespielt wird und die andere eine ganze Musik-Generation prägt, ist manchmal nur schwer zu verstehen. Das gewisse Etwas, von dem immer die Rede ist, haben Lucinda, Matthew, Denise und Bedwin in Jonathan Lethems neuen Roman „Du liebst mich, du liebst mich nicht“ zu Beginn wohl eher nicht. Ihre Hobbygaragenband, irgendwo in der Kunstszene von Los Angeles beheimatet, trägt zum Lebensunterhalt rein gar nichts bei. Geld verdienen die Musiker als Tierpfleger, Verkäuferin im Pornoladen oder eben bei einem Call-Center-Kunstprojekt. Lucinda nimmt dort Beschwerdeanrufe entgegen und ist von einem „Nörgler“ besonders angetan. Aus seinen Geschichten werden neue Songs und die Band ist auf einmal gefragt. Zeit für den großen Durchbruch, gäbe es da nicht das Liebes- und Copyrightproblem. Der Nörgler, ein dicklicher Werbetexter, wird zu Lucindas Geliebtem und fordert seinen Platz in der Band.
Ein Buch, das an das Lebensgefühl der 90er Jahre erinnert. Wie einst in Kevin Smiths Film „Clerks“ wird die Popkultur zur eigentlichen Realität. Nach dem groß angelegten Roman „Die Festung der Einsamkeit“ ist „Du liebst mich, du liebst mich nicht“ ein leichtes, aber keineswegs banales Buch. Oder wie es am Ende slogenhaft heißt: „Es gibt keine Tiefe ohne Oberfläche.“

Mein Text erschien zuerst in der Septemberausgabe vom "Stadtkind"

Mit Hardrock gegen Lebenskrisen

Der Ruhrgebietsautor Frank Goosen liest in der Kulturfabrik aus seinem neuen Roman

Pop und Rock kommen in die Jahre und ans Aufhören ist nicht zu denken. Zumindest nicht für die „Rolling Stones“, Bob Dylan oder „The Who“. Musik, die mal Teil einer Jugendbewegung war, wird jetzt von betagten und gut betuchten Männern zum Besten gegeben. Manchmal würdevoll und manchmal der eigenen Vergangenheit hinterher hinkend. Es ist ein Kampf gegen das Alt-Werden und gegen die frühzeitige Pensionierung. Aber gleichzeitig auch ein Stück Lebenshilfe für die Menschen, die sich mit Musik gern an vergangene Zeiten zurück erinnern. So, wie die fünf Freunde in Frank Goosens neuem und gerade erschienen Roman „So viel Zeit“. Mit diesem war der Autor von „Liegen lernen“ am Mittwochabend zu Gast in der gut besuchten Kulturfabrik, eingeladen von Amei`s Buchecke.
Bulle, Konni, Rainer und Thomas sind Mitte vierzig, leben in Bochum und arbeiten als Arzt, Lehrer, Anwalt oder Pornobildtexter. Die wichtigsten Entscheidungen zwischen Hausbau und Kinderkriegen haben sie bereits hinter sich gebracht. Und weil dies so ist und Männer mittleren Alters bekanntlich in Sinnkrisen geraten, träumen sie bei ihren regelmäßigen Doppelkopfabenden von einer gemeinsamen Band. Es fehlt nur noch der fünfte Mann, denn auch ihre Helden von „Deep Purple“ waren zu fünft. Die Freunde erinnern sich an Ole, der vor Jahren aus geheimnisvollen Gründen nach Berlin ging. Der Coolste von einst, ist jetzt der rastlose Verlierer.
Goosens Roman ist nichts anderes als eine Comedy-Seifenoper. Die Geschichte bietet wenige Überraschungen und erscheint daher allzu vertraut. Viel eher setzt Goosen auf Situationskomik und braucht die Story nur, um seine Ideen zusammenzuhalten. Betrachtet man „So viel Zeit“ als Kabarettprogramm, ist es allerdings äußerst amüsant. Und Kabarett macht Goosen bereits seit 1992. Auch in der Kulturfabrik gelingt es ihm, zum Lachen zu bringen Mit seiner imposanten Statur, dem Ruhrpott-Dialekt und seinen ruppigen Ansagen verkörpert er das Ruhrgebiet so, wie man es sich vorstellt: Ehrlich, herzlich und direkt. Der in Bochum lebende Autor tritt eher als Malocher auf und bedient nicht so sehr das gängige Schriftstellebild. Ähnlich wie die Figuren im Roman, die alle nicht bei Opel am Band arbeiten, sich aber dennoch so geben. Aber gerade aus diesen Widersprüchen entsteht die Komik. Dies stellt Goosen in der Kulturfabrik vor allem mit einer Passage über den ersten Auftritt der Band unter Beweis. Die fünf wiedervereinten Freunde nennen sich jetzt „Mountain of thunder“ und beschallen eine 70er Jahre Mottoparty. „Vor dem Tennisclub kamen die ersten BMW, Mercedes, Golf Cabrio und New Beetle an. Männer mit Perücken und Batik-T-Shirts stiegen aus, Frauen in wallenden Kleidern und Clogs“, heißt es zu Beginn und nach einem energiegeladenen Konzert und einer zwölfminütigen Version von „Child in time“ werden aus den kostümierten Spießern nahezu Revoluzzer.
Am Ende der Lesung stellt Goosen sich die sonst üblichen Fragen gleich selber. Festzuhalten ist: „So viel Zeit“ ist jedenfalls nicht autobiographisch und das nächste Buch wird ein Ruhrgebietsfamilienroman. 2010 soll es erscheinen. Essen und das restliche Ruhrgebiet sind dann Kulturhauptstadt Europas und Goosen ein Vertreter dieser Region.

Mein Text erschien zuersten in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung" vom 23.08.2007

Freitag, 10. August 2007

Raul Zelik: Der bewaffnete Freund

Joseba Sarrionandia ist im Baskenland einer der meist gelesenen Autoren und gleichzeitig einer von vielen, die im Untergrund leben. Als Mitglied der ETA wurde er 1980 inhaftiert und 1985 während eines Gefängniskonzerts - er versteckte sich in Lautsprecherboxen - spektakulär befreit. Der spätere ETA-Führer Mikel Albizu "Antza" soll, als Tontechniker verkleidet, Sarrionandia zur Flucht verholfen haben. Albizu selbst wurde 20003 in Frankreich verhaftet. Historische Begebenheiten, die den Berliner Autor Raul Zelik nicht mehr loszulassen schienen. In Tages- und Wochenzeitungen hat er darüber geschrieben, und sein neuer Roman hier handelt komplett davon: Der Deutsche Alex arbeitet in Bilbao an einem Forschungsprojekt zur europäischen Identität. Als junger Linker half er einst den im südamerikanischen Untergrund lebenden ETA-Aktivisten Zubieta, im Roman der Befreier Sarrionandias. Nun kehrt Zubieta aus dem Exil zurück und nimmt Alex´Hilfe erneut in Anspruch. Zeliks Roman ist politisch, aber nicht tendenziös. Genderdebatten werden geführt, die "Festung Europa" thematisiert und staatliche sowie terroristische Gewalt hinterfragt. Keine Spur mehr von der Leichtigkeit des Vorgängerromans "Berliner Verhältnisse". Eher eine scharfsinnige Analyse aktueller Zustände, die den Leser aber dennoch mit einer hofnungsvollen Utopie entlässt.

Mein Text erschien zuerst in der Augustausgabe des "Stadtkinds".

Mittwoch, 11. Juli 2007

Kolja Mensing am 09.07. in der Kulturfabrik in Hildesheim

Kolja-Mensing-liest-in-Hildesheim-aus-seinem-Buch-Minibar

Ein würdevoller Blick
Der Geschichtensammler Kolja Mensing mit Buch und Film in der Kulturfabrik

Melancholie, vergebliche Liebe und die Neurosen des Mittelstandes. Von diesen Gefühlswelten erzählen viele der kurzen Geschichten in Kolja Mensings Buch „Minibar“. Nichts Neues in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Doch zum Glück thematisiert Mensing nicht nur die Luxusprobleme der Generation gut behüteter Mittdreißiger, sondern berichtet auch von Menschen, für die Bezeichnungen wie „Unterschicht“ oder bestenfalls „Prekariat“ wieder im allgemeinen Gebrauch sind. Mit dem Buch „Minibar“ und seinem Kurzfilm „13ter Stock“ war Kolja Mensing am Montagabend Gast in der Programmreihe „Nachtzeile“. In dieser Saison waren es politisch relevante Fragestellungen, die in der „Nachtzeile“ vorgestellt und diskutiert wurden. Ein gelungenes Programm, das nicht nur auf Themenvielfalt setzte, sondern auch unterschiedliche Formen politischen Schreibens berücksichtigte.
Mensing gibt sich zu Beginn nicht ganz so politisch. Ein „Er“ (wahlweise auch ein „Ich“) und ein „Sie“ finden in den meisten Kurzgeschichten zueinander und trennen sich am Ende wieder. Ganz gleich ob in „Minibar“, „Papier“ oder „Staub“. An die Utopie der Liebe glaubt das Buch jedenfalls nicht. Immer wieder reduziert Mensing geschickt auf das Wesentliche. Er ist, wie er später sagt, an der „Mechanik der Geschichte“ interessiert. Auch wenn es ihm literarisch gelingt und man ihm gerne zuhört, erzählen diese Kurzprosatexte nichts wirklich Weltbewegendes. Interessanter sind die Geschichten aus „Minibar“, die die Kindheit thematisieren oder die ein anderes Milieu beschreiben. In seiner Erzählung „Bier“ gelingt es Mensing, die soziale Härte auch als solche wiederzugeben: „Achim war Mitte vierzig, und er war arbeitslos, genau wie der Dicke und der Idiot mit der kaputten Brille.“ Keine Spur von Elendsromantik und falscher Sozialutopie. Mensing zeigt sich an diesem Abend als Anthropologe, der zu Beginn seine eigene Herkunft beschreibt und dann den Blick auf ihm fremde Lebensumstände richtet. Schicksale, wie die von Achim gibt es auch in seinem Film „13. Stock“, eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Dokumentarfilmer Florian Thalhofer. Vier Wochen sind die beiden als Geschichtensammler in ein Hochhaus in der Grohner Düne eingezogen, einer kleinen Trabantensiedlung bei Bremen. Einst gedacht als soziales Wohnbauprojekt und als sozialer Brennpunkt in Verruf gekommen. Der Dokumentarfilm ist interaktiv, besteht aus kurzen Clips und ist für die Rezeption am Computer gedacht. Aus einer unteren Leiste, die jeweils drei mögliche Kurzfilmschnipsel anbietet, muss der Betrachter immer wieder wählen und sich so durch die Leben der Bewohner klicken. Bei der öffentlichen Vorführung setzt Mensing auf Basisdemokratie. Mit Laserpointern ausgestattet, entscheidet die Mehrheit der Zuschauer, ob sie aus dem Leben des arbeitslosen Jens erfahren oder einer älteren Frau über das Ansehen der Siedlung zuhören möchte. Mensing und Thalhofer gelingt ein würdevoller Blick auf die Menschen, die sonst nur als gesellschaftliches Problem medial in Erscheinung treten. Dass man keine intimen Details erfährt, war den Filmemachern wichtig, wie Mensing in der anschliessenden Diskussion verrät. Und so zeigte der Abend, dass es sich lohnt, den eigenen Standpunkt zu verlassen und den weniger Privilegierten, eine Stimme zu geben.

Mein Text erschien am 11.07. in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung"

Freitag, 6. Juli 2007

Zwischen Punk und Pop

Die Hildesheimer Band „BM Stereo“ zu Gast in der Kulturfabrik

Eine Sängerin und drei oder vier Jungs im Hintergrund. So die Verkaufsformel mit der „Mia“, „Wir sind Helden“ „Silbermond“ oder „Juli“ ihre Erfolge feiern. Bei der Hildesheimer Band „BM Stereo“ sind es Maik Bluemke (Gitarre), Karsten Teuber (Bass) und Sebastian Topp (Schlagzeug), die ihrer Sängerin Birte Wolter den großen Auftritt überlassen. Doch auf einer perfekten deutschen Verkaufswelle schwimmen „BM Stereo“ nicht. Gesungen wird auf Englisch und auch die Musik lässt sich von den Beschränkungen des hiesigen Musikmarktes nicht eingrenzen. Mit einer Mischung aus Punk, New Wave und Pop brachten die wirklich vielversprechenden „BM Stereo“ am Mittwochabend die Gäste zum tanzen.
Für das richtige Rhythmusgefühl sorgen zunächst „The Surfin` dudes“ mit ihrem 60er Jahre Surfrock. Eine Musikrichtung, die durch den „Pulp Fiction“-Soundtrack in den 90ern ihr Revival erlebte. Popkulturell gesehen ist die Musik der drei Hildesheimer somit der Inbegriff von Coolness.
Aber auch „BM Stereo“ sind ein Beispiel für Lässigkeit. Birte Wolter überzeugt gleich zu Beginn mit „Do anything“ von ihrer kräftigen, ausgebildeten Stimme. Mit ihrer Punkattitüde lässt sie den Gesang zuweilen brüchig werden, passt ihn der Musik an und wirkt so authentisch. Auch mit ihrem Outfit, einem schwarzweißen Secondhand-Blumenkleid und den geringelten Armstulpen, erinnert sie an die Riot Grrrl-Bewegung der 90er Jahre, in der eine Vielzahl von Sängerinnen ihr eigenes selbstbewusstes Verständnis von Rockmusik entwickelten. Fernab von männlichen Klischees. Ansonsten lässt Wolter die Musik für sich sprechen. Im Gegensatz zu den anderen Bandmitgliedern klammert sie sich an ihr Mikrophon und bewegt sich kaum von der Stelle. Ob man ihre Performance als schüchtern oder kokett auslegt, ist Ansichtssache. Als sie beim „Police“-Cover „Next to you“ Maik Bluemkes Instrument übernimmt, wird aus der introvertierten Sängerin jedenfalls eine rockende Gitarristin.
Nicht nur mit den gecoverten Stücken von „Police“, „Nirvana“ und PJ Harvey zeigen „BM Stereo“, dass sie sich in der Musikgeschichte gut auskennen. Auf ihrer Myspace-Seite verweisen sie musikalisch auf „alles was in den letzten vierzig Jahren gut und heilig war“.
Typisch für die gegenwärtige Rockmusik, die aus dem musikalischen Reichtum vergangener Jahrzehnte schöpft und dennoch einen eigenen Sound kreiert. Dabei gelingt es „BM Stereo“ mit ihrem Songwriting, die unterschiedlichsten Stile zu vereinen. Harte Grungeriffs und popige Melodien sind für diese Band kein Widerspruch. In den besten Momenten nimmt die Musik gefangen und berührt. „Colour TV“ ist so ein Beispiel. Die älteren „BM Stereo“- Stücke wurden von Wolter und Bluemke geschrieben, die neuen entstanden mit der gesamten Band im Proberaum. Als letzten Song an diesem Abend gibt es die Eigenkomposition „Sunday“. Der Song, der am ehesten an „The Strokes“ erinnert. Kein Wunder, dass „BM Stereo“ für zahlreiche Konzert gebucht sind. Vielleicht steht in diesem Jahr sogar noch eine kleine Frankreichtournee an. Dabei steht fest: Ein Land, dass den Sound von „Phoenix“ feiert, wird „BM Stereo“ sicherlich lieben.

Mein Text erschien am 06.07. in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung"

Montag, 2. Juli 2007

Regiesieger in der letzten Runde

Der 5. Wettkampfabend im "Hildesheimer Kurzdrammenwettbewerb": Matthias Spaniel gewinnt

Während in Klagenfurt die ersten Autoren um den begehrten Bachmannpreis kämpfen, ging es beim „Hildesheimer Kurzdramenwettbewerb“ – gefördert von der Universitätsgesellschaft und der Stadt Hildesheim - am Donnerstagabend in die fünfte und letzte Runde. Alexander Möckel aus Gera stellt mit „Kasperle im Zauberland“ die Märchenwelt auf den Kopf und Jürgen Bühner verhandelt mit „oben“ Fragen von Macht, Geschlecht und Sexualität. Inszeniert wurde der Dramenwettstreit von Matthias Spaniel, Student der szenischen Künste an der Universität Hildesheim.
„Zauberland ist abgebrannt“ sang einst Rio Reiser. Und auch in Alexander Möckels Stück ist nichts mehr so, wie es früher war. Der Teufel (Fabian Schütze) ist arbeitslos, denn alles Böse wurde schon einmal getan. Gretl (Anna Köpnick) wird vom fiesen Kasper (Florian Brand) verführt und vom lüsternen Großvater (Karoline Kähler) sexuell mißbraucht. Der Fuchs (Knut Gabel) findet nichts mehr zu fressen, da all die anderen aus Habgier listiger sind und wird zur Beute des Krokodils (Vanessa Lutz). Am Ende bekommt der Teufel königlich verbrieft, der sensibelste, netteste und freundlichste Mensch zu sein. Simpel ist der Rollentausch und konservativ die Weltsicht. Der Kaspar ist jetzt der Bösewicht und früher war alles besser. Eine Woche – so will es das Reglement – hatte Spaniel Zeit, aus dieser holzschnittartigen Story etwas rauszuholen. Dabei werden in der Inszenierung aus den Schwächen des Textes starke Momente. Wie in einem Kasperletheater bewegen sich die Schauspieler fast nur auf einer Linie und reden in einer überbetonten kindgerechten Sprache. Besonders schöner Einfall: Die Texte sind an Fleischerhacken befestigt und werden dramaturgisch mit einbezogen. Auch die Jury war von Möckels Drama nicht wirklich begeistert. Julia Kastner vom Theaterhaus Hildesheim kritisierte das abrupte Ende und John Birke von der Universität Hildesheim die teils fehlende klare Haltung.
Umso überraschender, dass dem zweiten Text – obwohl deutlich anspruchsvoller – mit 5,3 dieselbe Punktwertung zu Teil wurde. Jürgen Bühners „oben“ ist eine lyrische Aneinanderreihung von Wortketten und nur schwer zugänglich. Dennoch bietet das Drama für Interpretationen genügend Anhaltspunkte. Ein Dialog zwischen einem SIE (Vanessa Lutz) und einem ER (Knut Gabel), in dem es um Fragen der Machtausübung geht. Sport und Sexualität sind die Austragungsorte dieses Wettkampfes. Spaniel vertraut auf die Kraft des Textes und reduziert diesen auf ein einziges Bild: ER stemmt, auf dem Boden liegend, SIE hoch. Mit „ich / oben“ beendet SIE, über ihn schwebend und mit den Armen rudernd, das Machtspiel und wirft ihm eine Ladung Mettfleisch ins Gesicht. Spaniel ist es vor allem gelungen die beiden unterschiedlichen Stücke zusammenzuführen. Zuvor war das Fleisch Sinnbild für die Ermordung des Fuchses durch das Krokodil. Die Jury zeigte sich vor allem begeistert von der Regie. Der Kulturwissenschaftler Thomas Kästle fand es sehr schön, dass der Zuschauer zum Voyeur wird, Birke sprach von einem starken Zugriff auf den Text. Und so steht bereits fest: Spaniel erhält mit einer Bewertung von 7,3 den Regiepreis der Jury. Die vier Preise für Text und Inszenierung, verliehen von Jury und Publikum, werden am 05. Juli im Theaterhaus überreicht.

Mein Text wurde am 30.06. in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung" veröffentlicht

Dienstag, 26. Juni 2007

Babylonisches Sprachgewirr

Das Trio „Theatre du Pain“ mit „Wortbrot und Fischgesang“ zu Gast in der Kulturfabrik

Die Welt erklären möchte das Bremer Trio „Theatre du Pain“ nicht. Gemäß dem Tocotronic-Motto „Pure Vernunft darf niemals siegen“ setzt man auf Chaos und Irritation. Mit ihrem neuen Programm „Wortbrot und Fischgesang“ zeigten die drei Schauspieler und Multiinstrumentalisten im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Blue Moon“ in der Kulturfabrik: Kunst lässt sich empfinden, verstehen muss man sie nicht.
Bereits das Bühnenbild weckt Erwartungen. Am rechten Bühnenrand steht ein vertikal aufgestelltes Bett, links ein alter Filmprojektor und von der Decke baumelt ein Schlittschuh. Ansonsten: Blasinstrumente, Gitarren und ein Schlagzeug. Ein Kuriositätenkabinett, dessen Bedeutung sich kaum erahnen lässt.
Der Abend beginnt biblisch. Den Satz „Im Anfang war das Wort“ versucht eine Frau im Off vergeblich einem stotternden Jungen beizubringen. Zugleich halten die drei Schauspieler Einzug. Mateng Pollkläsener wird von Wolfgang Suchner und Hans König in einem Metallbottich durch den Saal gezogen, nassgespritzt, mit Gurken gefüttert und auf die Bühne gekippt. Anschließend wird ihm andeutungsweise der Kopf mit einer Motorsäge geöffnet, der Inhalt mit Zutaten verrührt und in einer sahnemäßigen Konsistenz zu Essen gegeben. Im Hintergrund läuft der Beach Boys-Klassiker „Good Vibrations“. Als wäre es an Grausamkeiten noch nicht genug, gebiert Pollkläsener durch einen Kaiserschnitt eine riesige Zunge. Eine groteske Szenerie, lustig und brutal zugleich, die an das absurde Theater oder an die surrealistischen Filme von Buñuel und Dali erinnert. Auf eine dramaturgische Handlung wird in den meist kurzen Szenen verzichtet und die Namen, Berufe oder biographische Details der drei Akteure spielen keine Rolle. Lediglich durch ihre billigen, aber farblich unterschiedlichen Anzüge, lässt sich eine irgendwie geartete Zugehörigkeit erahnen. Der Zuschauer wird so auf die eigene Vorstellungskraft zurückgeworfen und ist angehalten, sich selbst zurechtzufinden.
Doch Anhaltspunkte gibt es. Strukturiert wird das Programm durch fremdsprachige Telefonanrufer mit denen eine Kommunikation, als Folge des babylonischen Sprachengewirrs, unmöglich erscheint. Auch innerhalb der eigenen Sprache kommt ein wirklicher Dialog nicht zustande. Die Gespräche folgen keiner Logik und sind von dem Selbstbehauptungswillen des einzelnen geprägt. Vielleicht ist es auch einfach nur Ausdruck von Panik. Denn so die melancholische Feststellung: „Die Worte entsprechen der Welt nicht mehr“. Ein Gespräch über die Gründung einer GmbH wird zu einem Gespräch über verhältnismäßiges Durchgreifen im Sinne der Gemeinnützigkeit und die kulturelle Projektförderung zur Förderung des Oktoberfestes. Auch die Musik bietet da keine Abhilfe. „Ich will ein besserer Mensch werden“, „Reise nach Fürchtebrücken“ oder „Es liegt ein Scheißhaufen im Zimmer“ heißen die Songs und parodieren gekonnt populäre Musikstile. Mal balladesk mit Akustikgitarre, mal rockig mit elektrischer Gitarre, Tuba und Schlagzeug. Es ist eine verführerische Musik, die in der Lage ist, jeden Text an den Mann zu bringen. Nur schwer konnte sich das Publikum von „Theatre du Pain“ und somit von einem nicht ganz schmerzfreien Humor verabschieden.

Mein Text erschien am 26. Juni in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung"

Mittwoch, 20. Juni 2007

One person play

Zwölf englischsprachige Eingenkompositionen – zwischen Jazz, Blues, Pop und Musical – präsentiert Jacid Jewel auf ihrem Debütalbum „One Person Play“. Eine Begabung für den eingängigen Song zeichnet sie aus, auf Lückenfüller verzichtet sie. Jacid Jewels Gesang ist im Vergleich zum Konzert unaufgeregter, ironiefreier und stellt sich mehr in den Dienst der Stücke. Die Qualität ihrer tiefen Stimme wird umso deutlicher. Was bei der CD noch mehr als beim Konzert auffällt: Nicht alle Texte sind gelungen. Zu klischeehaft ist der Umgang mit der englischen Sprache, der zuweilen die Emotionalität der Songs stört und ihre Glaubwürdigkeit verhindert.
Die Produktion gibt den Liveklang gut wieder. Keine technischen Spielereien, aber dafür ein voller unplugged-Sound. Schnellere Stücke wie „the preacher“ verlieren kaum an Dynamik und begeistern vor allem mit ihren Klaviersoli. Für 15 Euro (einschließlich Versand) kann die CD auf www.jacid-jewel.de bestellt werden.

Mein Text erschien am 11.06.2007 in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung"

Lieder für Romantiker

Eine Stimme und ein Klavier. So das musikalische Konzept der Solokünstlerin Anna-Maria Thönelt, die unter dem Künstlernamen Jacid Jewel auftritt. Auf den Punkt gebracht könnte man auch sagen: „One person play“. Unter diesem Titel ist das Debütalbum der gebürtigen Hildesheimerin erschienen. Einige der darauf enthaltenen Songs spielte sie am Freitagabend in der „Bischofsmühle“ und stellte ein vielseitiges Programm vor.
Traurig und langsam setzt das Klavier ein. „All alone“ singt Jacid Jewel mit ihrer dunklen Stimme. Ein melancholischer Song, gemacht für einen einsamen Abend an einer Hotelbar. Ein wenig wie in Sofia Coppolas Film „Lost in Translation“. Alleine ist Jacid Jewel in der gut besuchten Bischofsmühle nicht und wird vom Publikum auch nicht allein gelassen. Ein Großteil der Lieder sind Eigenkompositionen, die schon beim ersten Hören vertraut klingen. „Clinking, clanking strings“ ist so ein Beispiel. Eingängiger kann ein Refrain kaum sein. Vieles erinnert an die großen Pop-Balladen der achtziger und neunziger Jahre, beispielsweise an Whitney Houston oder Cher, deren Songs sie an diesem Abend covert. Es ist Musik, die das große Gefühl nicht scheut. Geschrieben für unverbesserliche Romantiker, ein Soundtrack für die nicht ganz kitschfreien Momente des Lebens. Berührend ist ihr Song „Deep Water“, den sie hier an der Innersten geschrieben hat.
In ihrer Performance wechselt sie immer wieder die Tonlage, wirkt leidend und flirtet mit dem Publikum. Allzu ernst nimmt sie sich dabei nicht und überhöht zuweilen die gängigen Bühnenposen. Dem Publikum gesteht Jacid Jewel: „Ich habe diese CD nicht gemacht, um schön, berühmt und reich zu werden, sondern um Menschen zu verbinden.“ Damit ihr dies auch an diesem Abend gelingt, verschenkt sie einem jungen Herrn die Hülle von „One person play“ und einer Zuschauerin die dazugehörige CD. Ein zum Scheitern verurteilter Versuch, Menschen zusammenzubringen, da sie beide bereits vergeben sind. Allerdings nur ein kleiner Rückschlag, denn in der zweiten Hälfte des Abends hat sich das ganze Publikum zusammengefunden. Fast alle Singen gemeinsam: „Oh Champs Élysées“.
Doch nicht nur Herzschmerzlieder präsentiert Jacid Jewel, sondern neben schnelleren Stücken wie „the preacher“ auch deutschsprachige Songs aus einem früheren Kabarettprogramm. In „Männer“ verzweifelt sie an einem Macho, Ökoanhänger und Frauenversteher und gesteht in einem weiteren Lied Ulrich Wickert ihre Liebe. Dabei geht sie bis zum Äußersten: „Dein Name hat mich so inspiriert, da hab ich ihn gleich eintätowiert.“
Ebenfalls deutschsprachig wird das nächste Album. „Deine Lieder“ soll es heißen. Zwei Stücke daraus präsentierte sie an diesem Abend. Kein Kabarett, sondern so gefühlvoll wie ihre aktuelle englischsprachige CD. Dass das Konzert für Jacid Jewel ein Heimspiel ist, zeigte sich gegen Ende. Einem Fanwunsch kam sie nach und spielte ihren Tango „birdie“. Als Zugabenhöhepunkt dann ein Song von Ina Deter. Das Klavier wird gegen eine Gitarre eingetauscht und die Mutter in Köln darf über das Handy mithören. Schliesslich war sie es, die das Lied der Tochter immer vorgesungen hat. Irgendwoher muss so ein Talent ja auch kommen.

Mein Text erschien am 11. Juni 2007 in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung"

Jonathan Franzen. Die Unruhezone

Wer wissen möchte, ob Jonathan Franzens Roman „Die Korrekturen“ autobiographische Züge trägt, ist mit „Die Unruhezone“ – seinem neuen Buch – ganz gut bedient. „Eine Geschichte von mir“ heißt es im Untertitel. Assoziativ erzählt Franzen von seiner Kindheit und Jugend im mittleren Westen der USA und von den prägenden Momenten seines Lebens. Auch in diesem Buch ist die Familie kein besonders heimeliger Ort. Dennoch ist Franzen nicht unbedingt ein Verächter dieser Lebensform. Nach gescheiterter Ehe, einem Liebesabenteuer mit einer deutlich jüngeren Frau ist es die Vaterschaft, die er jetzt herbeisehnt. „Die Unruhezone“ offenbart keine intimen Details aus dem Privatleben Franzens, sondern vielmehr die Ursprünge seines literarischen Schaffens. Neben der Familie nehmen seine Lektüreerlebnisse einen besonders großen Raum ein. Der deutsche Literaturkanon, von Goethe bis Thomas Mann, gehört dazu. Ebenso die phantastische Literatur von Tolkien oder C.S. Lewis. Alles keine großen Überraschungen. Viel interessanter sind die Bezüge zu den „Peanuts“-Comics von Charles M. Schulz. „Schulz war nicht Künstler, weil er litt. Er litt, weil er Künstler war“, stellt Franzen fest. Will man sich mit den Romanwelten Franzens näher auseinandersetzen, sollte man „Die Unruhezone“ lesen. Aber auch die „Peanuts“.

Veröffentlicht in der Juni-Ausgabe des Magazins "Stadtkind"

Show must go on

Karl Miller nimmt mit selbst geschriebenem Musical Abschied

Still und heimlich hätte Karl Miller Hildesheim verlassen und sein neues Engagement am Deutschen Theater in Göttingen antreten können. Doch so einfach geht das nicht. Vor allem nicht in einer gut funktionierenden Beziehung. Denn ohne Zweifel ist die Liebe zwischen Karl Miller und seinem Publikum eine gegenseitige. Und so verabschiedete er sich am Donnerstagabend im Stadttheater von seinen treuen Zuschauern mit einem wirklich großen Knall. Nicht mit der üblichen Late-Night Show, sondern mit einem eigens geschriebenen Musical.
Miller braucht nicht viel, um das Publikum für sich zu gewinnen. Kaum betritt der Engländer im weißen Anzug und pinkem Hemd die Bühne, schon setzt der tosende Applaus ein. Dabei hat Miller die CD mit dem berühmten Jingle seiner Show vergessen und ist, so muss er gestehen, der einzige, der seinen Text nicht auswendig kann. Karl Miller ist der Star des Abends und zugleich der Mann im Hintergrund. So wie ein Woody Allen-Film ohne Woody Allen. Auch wenn er im Stück nur als Erzähler auftritt, sind die Dialoge und Songtexte typischer Karl Miller-Humor. Thorsten zum Felde hat die sehr musicalgerechten Lieder – zwischen Rockoper und Kitschballade - komponiert. Und so singt der King (Arnd Heuwinkel) den angemessen rockigen Eröffnungssong „Ich bin eine Rampensau“. Er ist ein Großkotz in Leopardenjacke und Schlangenlederhose. Ein Dieter Bohlen des Kulturbetriebs, dem alles gelingt: ob Theater, Film, Literatur oder Musik. Völlig anders der sensible Schauspieler (Moritz Tittel). Will der King mit „Ups, das waren meine Hosen“ den finanziellen Erfolg, träumt der Schauspieler mit „Die Hunde von Tublonsk“ vom ernsten Theater. Eigentlich hat der Schauspieler keine Chance, sich durchzusetzen. Gäbe es da nicht die Frauen. Die Künstlerin (Lisa Scheibner) verführt ihn mit ihrem radikalem Theaterverständnis und Baby Doll (Antonia Tittel) mit ihrem Sexappeal. Die eine macht ihn somit zum Mittäter an Kings Ermordung und die andere zum willenlosen Trottel, der seine Ideale verrät.
Einige grandios komische Szenen sind Karl Miller geglückt. Beispielsweise wenn der King nicht als Geist, sondern als Zombie zurückkehrt oder die beiden Frauen sich einen Kampf liefern, der an Quentin Tarantinos „Kill Bill“ erinnert. Der Intendant (Karl-Heinz Ahlers) versteht die Stücke nicht mehr und die Pressetante (Gisela Aderhold) will aus allem eine Sexgeschichte machen. Die düsteren Schwestern (Bernward Twickler, Ludmilla Heilig, Bettina Sörgel), angelehnt am Chor griechischer Tragödien, und Karl Miller nehmen allein schon durch ihre Präsenz für sich ein. Alles in allem eine Mischung aus seriösem Theater, Musical und Pulp Fiction. Und am Ende wirklich der große Knall. Die Künstlerin sieht sich zur Sprengung genötigt und das Ensemble singt dem Abend angemessen „Who knows what tomorrow will bring“. Die Zukunft ist ungewiss. Oscarreif bedankt sich Karl Miller bei den Schauspielern, beim Haus, bei seiner Frau und Tochter und natürlich auch bei seinem Publikum. Nicht enden wollende Standing Ovations folgen und am Schluss konnte man sich auf der Bühne von Karl Miller mit Sekt persönlich verabschieden. Nur gut, dass Göttingen nicht allzuweit entfernt ist.

Mein Text wurde am 16. Juli in der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung veröffentlicht

Dienstag, 29. Mai 2007

Kunst auf der Straße

Eröffnung der Ausstellung„Kommen Sie nach Hause“

Seit 1999 gibt es sie, die alljährliche Photowanderausstellung „Kommen Sie nach Hause“.
Nicht in Museen werden die Werke präsentiert, sondern in den Wohnungen beteiligter Künstler. Am Wochenende war die Ausstellung zu Gast in Hildesheim, in den Privaträumen der Künstlerin und Dozentin An Seebach. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Nachtbar“ wurde die Ausstellung am Freitagabend eröffnet.
Teil des Konzeptes ist es, eher unfertige, skizzenhafte Werke zu präsentieren. Solche, für die das Museum der vermeintlich falsche Ort ist, eine Privatwohnung hingegen als geeignet erscheint. Die Zusammenhänge zwischen der Kunst und ihren Repräsentationsorten werden auf diese Weise hinterfragt. An Seebach und der Schauspieler Thorsten Bihegue – beide Kuratoren der diesjährigen „Nachtbar“-Saison – zeigten mit ihrer Vernissage gleich mehrere Möglichkeiten, Kunst in nichtmuseale Kontexte zu stellen. Denn vor der eigentlichen Eröffnung gab es zunächst eine Stadtführung: Vom Stadttheater bis zu Seebachs Wohnung in der Nordstadt.
„Kunst und Alltagswelt vermischen sich“ behauptet Bihegue gleich zu Beginn. Und dies scheint auch das Motto der Führung zu sein. Immer wieder verweist er auf vorgefundene Piktogramme, die er ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt und sie in neue Zusammenhänge stellt. Ein Verbotsschild, das Frau und Kind abbildet, wird so zum Beweis für eine patriarchalisch geprägte Stadt. Hinterhöfe werden als Angstorte psychologisiert, Schaukästen zu Kunstvitrinen stilisiert. Völlig ernst ist das nicht gemeint, dennoch gelingt es Bihegue den Blick zu schärfen. Dinge, denen man sonst keinerlei Beachtung schenkt, werden auf diese Weise wahrgenommen. Während Bihegue durch die Stadt führt, eilen Seebach und die Studentin Zindy Hausmann voraus und bringen an den unterschiedlichsten Orten Fotografien an, die anschließend besichtigt werden. Beispielsweise in der Almstor-Unterführung. Ein „Nichtort, der nicht mehr gebraucht wird und der danach schreit inszeniert zu werden“ so Bihegue. Hier länger zu verweilen und die kontemplative Haltung eines Museumsbesuchers einzunehmen, erscheint absurd und es ist daher umso schwieriger, sich auf die Objekte einzulassen. Mit einer Kurzinszenierung von Samuel Becketts „Quadrat“ und dem Besuch eines Parkdecks als weiteren Ausstellungsort werden die Möglichkeiten, Kunst im öffentlichen Raum zu inszenieren, durchexerziert. Während man Fotografien an Häuserwänden eher als Fremdkörper wahrnimmt, wirken sie in Seebachs Wohnung gar nicht so außergewöhnlich. Lediglich die Schilder mit den Künstlernamen verweisen auf eine Ausstellung und die Überfrachtung der Zweizimmerwohnung mit Exponaten auf eine nicht ganz alltägliche Situation. Auch wenn Werke erfolgreicher Künstler wie Jürgen Paas zu entdecken sind, findet man hier keine bekannten Bilder. Sondern vielmehr ein ungeordnetes Archiv zeitgenössischer Kunst, die nur innerhalb dieser Ausstellungsreihe eine Öffentlichkeit finden wird.

Jazz mit starken Melodien

Jazz mit starken Melodien
Das „Pär Lammers Trio“ mit Vorgruppe zu Gast bei der „Nachtbar“ im F1 des Stadttheaters

Für eine Jazz-Band ist die Besetzung des „Pär-Lammers-Trio“ nicht gerade außergewöhnlich: Piano, Schlagzeug, Bass. Umso überraschender ist ihre Musik. Von ihrem etwas anderen Jazz-Verständnis konnte man sich am Freitagabend in der Reihe „Nachtbar“ im F1 des Stadttheaters überzeugen. Doch bevor das Trio die Herzen und Köpfe der Zuschauer für sich einnahm, sorgten die Schauspieler Aljoscha Domes, Jan Gehler und Moritz Tittel mit einer Jazz-Lesung für die richtige Atmosphäre. Ein Spiel mit dem Klischee der Ernst- und Bedeutungshaftigkeit von Jazz-Musik.
Unterschiedliche Texte werden von den Schauspielern überlagert, variiert und so immer wieder neue Bedeutungsebenen geschaffen. Die DVD-Player-Gebrauchsanweisung trifft auf die Gebrauchsanweisung für die Sexstellung „Der Bildhauer“ und die Briefe Lenins auf schriftliche Jobabsagen. Dabei sind sich die drei Schauspieler auch für karnevaleske Momente nicht zu schade. Von der Torte im Gesicht bis zur Mickeymausstimme, herbeigeführt durch Helium aus dem Luftballon. Am Ende dann das „Einheitsfrontlied“ von Brecht und Weil. Ein gelangweiltes Publikum musste das Amsterdamer „Pär-Lammers-Trio“, das zuletzt in Hildesheim auf der Geburtstagsfeier des „Cyclus 66“ spielte, nicht befürchten.
Benni Wellenbeck (Schlagzeug) und Marcel Krömker (Kontrabass) legen auch sofort los. Mit einem mitreißenden Beat und einer ebenso mitreißenden Hookline. Pär Lammers (Piano) hingegen lässt sich erst einmal Zeit. Das Jackett wird ausgezogen, die Hosentaschen gelehrt. Er spielt mit der Erwartungshaltung des Publikums, kann sich dieses Spiel aber auch leisten. Denn das Trio hat etwas zu bieten. Lammers setzt ein und schon sind sie da, diese süchtig machenden Melodien. Stücke wie „Mo-Lan-Cho-lisch“ oder „All die bunten Schafe“ sind gleich vertraut und man möchte sich nicht von ihnen trennen. Dabei umschmeichelt die Musik nicht nur den Zuhörer, sondern fordert ihn gleichzeitig heraus. Denn zwischen den immer wiederkehrenden Melodiebögen liegen längere Improvisationsstrecken. Alle drei Musiker bringen sich mit ihrem Spiel virtuos ein und bilden gleichzeitig eine Einheit. Es ist eine äußerst spannungsgeladene Musik, die an die Struktur von Film-Soundtracks erinnert. Durch die Wiederholungen entsteht eine emotionale Bindung und man kann es kaum erwarten, bereits Bekanntes erneut zu hören. Ebenfalls unterhaltend sind Lammers Ansagen. Gegen die Kaufargumente für die neue CD „All die bunten Schafe“ gibt es jedenfalls nichts einzuwenden: „Gutes Cover. Gute Lieder.“
Neben den Eigenkompositionen werden in der zweiten Konzerthälfte auch bekannte Stücke neu interpretiert. Nicht etwa Jazzstandards, sondern Klassiker der Popmusik. Depech Modes „Enjoy the silence“ berührt auch ohne Dave Gahans Gesang zutiefst und wird mit besonders viel Applaus bedacht. Gehen lassen wollten die Zuschauer die Band am Ende nicht. Vor allem nicht nach der Zugabe von Oasis „Wonderwall“. Passiert sei Ihnen das angeblich noch nie, behauptet Lammers. Daher sehe er sich genötigt, einen etwas ruhigeren Song zu spielen, damit das Publikum nicht so ganz aus dem Häuschen sei. Es war die letzte Zugabe.

Ein politischer Roman

Raul Zelik liest in der Kulturfabrik zum ersten Mal aus „Der bewaffnete Freund“

Literatur soll politischer werden, etwas zu sagen haben und von gesellschaftlicher Relevanz sein. Diese Forderung wird von der Literaturkritik, aber auch von einzelnen Autoren wie beispielsweise Juli Zeh immer wieder gestellt. Der Schriftsteller Raul Zelik ist keineswegs unpolitisch, vor allem nicht mit seinem neuen Buch „Der bewaffnete Freund“. Dabei ist es keine Auseinandersetzung mit deutschen Verhältnissen, sondern mit dem Baskenland und dem Terrorismus. Ein passender Autor für die Programmreihe „Nachtzeile“, die vornehmlich Schriftsteller zu politischen und sozialen Themen in die Kulturfabrik Löseke einlädt und an diesem Abend mit Ameis Buchecke und dem Infoladen kooperierte.
Noch ist „Der bewaffnete Freund“ nicht erschienen und es ist das erste Mal, dass Zelik aus diesem Buch vor Publikum liest. Sein T-Shirt gegen den G8-Gipel ist ein klares Statement, während der Text sich einer Eindeutigkeit eher entzieht und einen differenzierten Blick auf die gewählte Thematik wirft. Welche das genau ist, erklärt Zelik zu Beginn. Er berichtet von der hohen Zahl der Basken, die in der Illegalität leben, von spanischer Polizeigewalt und vor allem auch vom Schriftsteller Joseba Sarrionandia. 1980 wurde Sarrionandia inhaftiert und 1985 während eines Gefängniskonzertes spektakulär befreit. Seitdem lebt er in der Illegalität, veröffentlicht weiterhin Bücher und ist einer der meist gelesenen baskischen Autoren. Soviel zum historischen Hintergrund des Romans. „Der bewaffnete Freund“ erzählt aus der Sicht von Alex. Einem Deutschen, der sich in Bilbao aufhält und „über europäische Identität“ forscht. Sein Freund Zubieta war es, der Sarrionandia befreite und seitdem in Brasilien im Untergrund lebt. Zubieta kehrt nach Spanien und somit auch wieder in Alex Leben zurück. Es ist ein dialoglastiger, eher handlungsarmer Roman, der beim Zuhören ein hohes Maß an Konzentration voraussetzt. Doch kleine Beobachtungen sind es, die die Lesung nicht allzu angestrengt wirken lassen. So stellt Alex beispielsweise fest: „Das Schlimmste ist das Neo-Hippieske. Backpacker, die sich für Aussteiger halten, aber in Wirklichkeit nur als neoliberale Vorhut des Pauschaltourismus unterwegs sind.“ Einige Rezensenten werden dem Text vorwerfen, thesenhaft, langatmig und verschachtelt zu sein. Ähnlich wie es vor einigen Jahren Norbert Gstreins Jugoslawienkriegsroman „Das Handwerk des Tötens“ vorgeworfen wurde. Doch gerade ein Roman mit politischem Hintergrund verlangt eine ausgewogene Erzählweise. In der anschließenden Diskussion ist Zelik direkter: Er wirft Spanien vor, selbst Mittel des Terrors anzuwenden, berichtet von Todesschwadronen und Polizeifolter. Einen Friedensprozess hält er für gescheitert und glaubt, dass die ETA wieder Anschläge verüben wird. Zelik ist sich des Exotenthemas seines Buches bewusst. Da die Europäer immer wieder die Zustände im Gefangenenlager „Guantanamo“ anklagen, möchte er den Blick auf das in Europa begangene Unrecht schärfen. And diesem Abend ist es ihm jedenfalls gelungen.

Geschrieben für die "Hildesheimer Allgemeine Zeitung". Veröffentlicht am 23.05.2007

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